In den letzten Jahren haben sich im Bereich ambitionierter Lautsprecher
jedenfalls ein paar Standards etabliert. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
trifft man da auf Bauteile von Mundorf, Treiber von Accuton und Gehäuse
mit runden Seitenwangen. Es gibt Ausnahmen, keine Frage, doch jede
dritte anspruchsvolle Box sieht mittlerweile so aus.
Einige Accuton- bestückte Lautsprecher habe ich in den vergangenen
Jahren näher kennengelernt: die Ayon Goshawk, die Consensus Audio
Lightning und die Isophon Vescova (hifi&records 2/2011).
Gute Lautsprecher allesamt, wobei mir die Vescova mit Diamant- Hochtöner
mit Abstand am besten gefallen hat. Ich glaube, sie wurden alle mit
dem Ziel entwickelt, die Fehler anderer Membran- und Kalotten-Materialien
wie Polypropylen, Papier, Aluminium oder Seide zu überwinden.
Sie sind klar dem Fortschritt verpflichtet, passen aber auch ins Herstellerprogramm,
insofern sie "irgendwie noch bezahlbar" sind, falls man das am Preis
eines Kleinwagens festmachen kann.
Bei der Piano Diacera liegt der Fall anders. Es ging darum, einen
Weltklasse- Lautsprecher - mannshoch und über 100.000 Euro teuer -
so zu verkleinern, dass er in Hörraume zwischen 20 und 40 Quadratmeter
passt. "lch wollte eine Sunray in einem kleineren Gehäuse" erzählt
Jörn Janczak. Was ist die Sunray? Und wer ist Jörn Janczak?
Ein Gewerbegebiet bei Köln, mit Film- und Fernsehstudios. Auf der
gegenüberliegenden Straßenseite ein unspektakulärer Mehrzweckbau.
Jörn Janczak führt mich durch seine 1999 gegründete Firma, TIDAL Audio,
und freut sich: "Der Anfang war schwer, aber jetzt haben wir Boden
unter den Füßen."
Dass es läuft, glaube ich gerne. Euphorische Besucherberichte von
der CES in Las Vegas und dem RMAF in Denver haben mich veranlasst,
einfach mal zum Telefonhörer zu greifen und mich gewissermaßen selbst
einzuladen: Da hat ein deutscher Hersteller mit seinen Lautsprechen
nachweisbar Erfolg in Amerika, Israel, Russland, Hongkong- nur in
der hiesigen HiFi- Presse kommt TIDAL Audio praktisch nicht vor.
Janczak lebt seinen Traum vom perfekten Lautsprecher aus. Und nichts
verkörpert seine Leidenschaft so gut wie die Sunray. Ich nehme den
Sessel im Vorführraum ein und höre Musik.
Das Verblüffendste: wie frei von jeder Anstrengung und mit welcher
Homogenität die Sunray klingt. Mein Hörabstand betrug vielleicht dreieinhalb
Meter - und doch fielen die aus zwei Bass- Modulen und einem dazwischen
gesetzten Mittelhochton- Modul bestehenden Türme akustisch nicht auseinander.
Sie klangen wie perfekte Zweiwege- Monitore, nur eben ohne jegliche
Kompressionseffekte und mit einem einerseits substantiellen, andererseits
federleicht ansprechenden Tiefbass. In dem Moment war sicher, dass
es bei TIDAL wirklich um etwas anderes als die Politur von Klavierlack
geht.
Die feinsten Lautsprechersysteme der Welt bauen zu wollen, das meint
Janczak absolut ernst. Und er nimmt den Mund keineswegs zu voll, ja
ich frage mich, ob er das Ziel mit der Sunray nicht schon erreicht
hat. Mit Ausnahme der Sphäron Excalibur von Acapella kenne ich nichts,
was in die Nähe der Sunray käme.
Leider spielt "meine" inzwischen in Indonesien und nicht bei mir im
Wohnzimmer, wo sie eigentlich hingehört. Immerhin steht da für ein
paar Wochen die Piano Diacera.
Grob vereinfacht besteht sie aus einem zum Standlautsprecher erweiterten
Mittelhochton- Modul der Sunray. Okay, ein Diamant- Hochtöner und
zwei Keramik- Chassis, dazu die Gehäuse - da taucht bei manchem Leser
mit Blick auf den Preis jetzt ein großes Fragezeichen auf.
Aber man kann die Piano Diacera, was den Bauteile- Aufwand angeht,
nicht mit einer Vescova, Goshawk oder Lightning vergleichen. Sind
die Diamant- Hochtöner von Accuton mit 20 Millimetern Durchmesser,
wie sie in der Vescova verwendet werden, schon teuer, so ist die 2003
speziell für Tidal entwickelte, erstmals in der Sunray eingesetzte
und nun auch in der Piano Diacera verbaute 30 Millimeter- Variante
quasi unbezahlbar.
Der sonst strikt dem Messmikrophon verpflichtete Entwickler weiß übrigens,
dass der Diamant zwar dem theoretischen Ideal eines unendlich steifen
Hochtöners entspricht, aber nicht den glatten Frequenzgang einer Keramik-Kalotte
hat. Doch in diesem Fall traut Jörn Janczak seinen Ohren: "Der Diamant
ist näher am Original und für mich der einzige Hochtöner, den man
als solchen nicht mehr hört."
Der kompromisslose Aufwand endet da nicht. In der Weiche befinden
sich beispielsweise Silberkarbon- Wiederstände, eine fast zehn Kilogramm
schwere Luftspule und vergossene Kondensatoren aus massiver Kupferfolie
mit Ölpapier als Dielelktrikum.
Die meisten dieser Bauteile kommen von Duelund aus Dänemark. In Serien-
Lautsprechern wird man sie niemals sehen. Luftspulen für mehrere hundert
Euro lassen sich nämlich kaum "rechnen".

Am
rückwärtigen Anschluss-Terminal Lassen sich Lautsprecherkabel in drei
Betriebsvarianten anschließen: als Zweiwege- Lautsprecher, in einer
Iinearen Abstimmung mit integriertem zweiten Tiefmitteltöner sowie
mit minimaler Bass- Überhöhung.
In meinem Raum hat mir die Variante mit leichter Bass- Überhöhung
am besten gefallen. Man verliert kaum Durchzeichnung, bekommt aber
eine Spur mehr Fülle ins Klangbild. Ein letzter erwähnenswerter Punkt
muss jeder Beurteilung vorausgehen: Neben hochwertigen Isolator- Füßen
gibt Tidal der Piano Diacera auch einen Entfernungsmesser von Leica
mit - ein Wink mit dem Zaunpfahl, den ich so auffasse, dass man sich
beim Ausrichten bitte schön ein wenig Mühe geben soll.
Was sich bei einer derartigen akustischen "Lupe" wirklich unbedingt
lohnt. Man beurteile die Piano Diacera niemals innerhalb einer Viertelstunde.
Ich beginne meine Einschätzung mit einem Malus: Wer extremen Tiefbass
wünscht, muss weiter suchen. Der Diacera fehlt dazu die Membranfläche,
irgendwo zwischen 35 oder 40 Hertz steigt sie aus. Doch wer nicht
ständig Orgelmusik von Vierne oder Widor hört, kann damit gut leben.
Tiefe Orchesterinstrumente wie Kontrabässe werden vollständig wiedergegeben;
ich habe nichts vermisst.
Bei den positiven Seiten möchte ich mich am liebsten auf Sprachlosigkeit
berufen. Eigentlich ist die Piano Diacera klanglich nicht greifbar
und erst recht kaum zu beschreiben. Jedes Lob - spielt dynamisch,
malt farbig, klingt räumlich - ginge an ihrer wahren Qualität vorbei,
weil dieses Lob zugleich - im Sinne einer Hervorhebung bestimmter
Klangeigenschaften - als Kritik aufgefasst werden müsste und mit der
Behauptung verbunden wäre, dieser Lautsprecher "interpretiere" die
Musik, indem er bestimmte Seiten hervortreten lässt. Tut er aber gar
nicht.
Er ist das perfekte Reproduktionsgerät, Kommunikationsgerät oder Transportgerät:
Was ankommt, wird eins zu eins in den Hörraum projiziert. Wie ich
mir dessen so sicher sein kann? Weil es Indizien gibt: Noch nie hat
mir ein Lautsprecher die Unterschiede zwischen Komponenten so deutlich
gemacht; manche waren mit der Sauberkeit regelrecht überfordert; sie
konnten das so fein aufgelöste Bild nicht angemessen mit Information
füllen.
Es war, als wolle man mit einem Super 8-Projektor eine Kinoleinwand
abdecken. Die Piano Diacera braucht Quellen von der Klasse eines Accuphase
DP-700 oder Moon 750 D. Auch das Phänomen, dass man mit einer besseren
Komponente seine CDs und LPs "wie neu" entdeckt und einem bisher unbekannte
Details offenbart werden, habe ich schon lange nicht mehr so erlebt.
Eine Art "Gleichschaltung" von Aufnahmen oder Geräten durch den "Charakter"
dieses Lautsprechers findet nicht statt. Er hat nämlich gar keinen
Charakter - sieht man von seiner Unbestechlichkeit und Detailfülle
sowie Homogenität mal ab. Hier schiebt sich kein HiFi- Erlebnis zwischen
den Hörer und die Musik; die Musik tritt einem "pur" entgegen, was
auch bedeutet: sich oft unspektakulär entfaltend.
Viele gut bekannte Aufnahmen wirken anfangs sogar "matter" als gewohnt,
bis einem aufgeht, dass es Effekte im Sinne von Unsauberkeiten gewesen
sein müssen, die für das "Strahlen" vertrauter Instrumente wie einer
Klarinette verantwortlich waren. Hat man das einmal verstanden (die
Erinnerung ans letzte Konzert hilft dabei ungemein), dann mag man
nie wieder hinter die Sauberkeit der Piano Diacera zurück, weil die
natürliche Klangfarbe einfach schöner ist als das, was gewöhnliches
HiFi daraus macht.
Fazit
Nach meinen Erlebnissen bei TIDAL Audio und während des Besuchs der
Piano Diacera in meinem Wohnzimmer kann ich Jörn Janczak nur gratulieren.
Ich habe noch keinen Schallwandler gehört, der Musik sauberer und
homogener, intakter und offener reproduziert als die Sunray - eine
in jeder Hinsicht kompromisslose Komponente, die auch vom Hörer fordert,
dazuzulernen.
Was nun aber die Piano Diacera angeht: Sie ist wirklich eine "kleine"
Sunray - mit nichts anderem vergleichbar als ihrem Vorbild. Wenn in
der Kette alles stimmt, projiziert sie einem Aufnahmesituationen eins
zu eins ins Hörzimmer. Ein Ausnahme- Schallwandler, gar keine Frage.
Heinz Gelking